1. Wer betroffen ist.

Betroffen sind vor allem Personen, die aufgrund des langen Asylprozesses im alten Asylverfahren bei Eintreffen ihres negativen Asylentscheids bereits seit 4 oder 5 Jahren in der Schweiz sind und meist eine sehr fortgeschrittene Inklusion vorweisen können, d.h. mitten in einer Berufslehre sind.

2. Keine Einzelfälle.

Es handelt sich schweizweit um eine namhafte Personenzahl. Genaue Daten sind keine vorhanden. Im Kanton Bern waren es z.B. 2019  60 bis 100 Fälle, schweizweit wird von etwa 600-800 Betroffenen ausgegangen. Betroffen sind auch die Lehrbetriebe, die oft keine Lehrlinge mehr finden.

3. Keine Zwischenlösung.

Eine Rückführung oder Rückkehr ins Herkunftsland ist in der Praxis meistens unmöglich, so dass viele der Betroffenen über Jahre unter prekärsten Bedinungen in der Nothilfe leben müssen, statt ihre Lehre zu beenden.

Nothilfe als Grundrecht (Bundesverfassung)

Gemäss Art. 12 der Bundesverfassung hat, «wer in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen, Anspruch auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind». Dieses Grundrecht auf Hilfe in Notlagen gewährleistet einen Kern an sozialstaatlichen Leistungen, der niemandem vorenthalten werden darf.

Nothilfe-Regime

Die Ausgestaltung der Nothilfe liegt in der Kompetenz der einzelnen Kantone. Im Kanton Bern erhalten Asylsuchende mit einem negativen Entscheid Nothilfeleistungen, die sich strikt auf das verfassungsrechtliche Minimum beschränken (Einführungsgesetz zum AIG und AsylG vom 13. Februar 2019, Art. 15):

​• Unterbringung in einer Kollektivunterkunft («Rückkehrzentrum»),
• Bereitstellung von Nahrung und Abgabe von Hygieneartikeln im Umfang der tiefsten Stufe, welche die Gesetzgebung über die Sozialhilfe im Asyl- und Flüchtlingsbereich vorsieht (Kanton Bern: 8 Franken pro Tag für sämtliche Lebenskosten),
• Leistungen aus der obligatorischen Krankenversicherung,
• Kleidungsstücke und andere Sachmittel bei dringendem und nachgewiesenem Bedarf.

Realpolitische Überlegungen

Das Nothilfe-Regime hat zum Ziel, bei Asylsuchenden mit einem negativen Entscheid massiven Druck aufzubauen, um eine freiwillige Ausreise zu erzwingen. Die Mittel dieses Drucks sind:

•  Minimale Lebensmöglichkeiten (8 Franken Nothilfe-Geld pro Tag für alle Kosten des Lebens),
​• Arbeits- und Ausbildungsverbot,
​•  Illegaler Aufenthalt (kein Ausweis, permanente Möglichkeit einer Verhaftung/Bussen wegen illegalem Aufenthalt/Administrativhaft).

​Wenn sich das Nothilfe-Regime in der Praxis bewährt und rasche Rückführungen in die Herkunftsländer möglich werden, ist es realpolitisch vertretbar.

Das Nothilfe-Regime in der Praxis

Gesetze und Verordnungen müssen sich in der Praxis bewähren. Dazu ist anzumerken: Der Bund zahlt den Kantonen eine Nothilfe-Pauschale von 6‘000 Franken pro Person. Der Bund kalkuliert damit, dass eine Rückkehr in maximal drei Monaten zu bewerkstelligen ist (die Nothilfe-Durchschnittskosten betragen 52 Franken pro Tag, vgl. SEM-Medienmitteilung vom 6.8.2019).

​Die Realität ist nun die, dass Ende 2019 schweizweit 71% der altrechtlichen Nothilfe-Beziehenden seit mindestens einem Jahr nothilfeabhängig waren. Gemäss Definition waren sie also Langzeitbeziehende (in absoluten Zahlen: 2’287 von 3’227 Nothilfebeziehenden; Zahlenbasis: 4. Quartal 2019, Quelle: SEM, Bericht Monitoring Sozialhilfestopp; Berichtsperiode 2019/altrechtliche Fälle).

Ein beträchtlicher Teil der Nothilfe-Beziehenden lebt also schon deutlich länger als ein Jahr von Nothilfe. Oft beträgt die Bezugsdauer mehrere Jahre, gemäss dem zitierten Bericht Monitoring Sozialhilfestopp (s. oben) sind 10% seit mehr als 6 Jahren in der Nothilfe.  Viele Frauen, v.a. solche mit Kindern, sind betroffen, da sie nicht untertauchen oder sich ins Ausland absetzen können.

Konsequenzen

Die Zahl von 71% Langzeitbeziehenden ist verstörend hoch. Sie zeigt, dass der Druck, den man mit dem Nothilfe-Regime erzeugen will, um eine Rückkehr zu erzwingen, den Praxistest nicht besteht, Viele können nicht weggehen.

Was bedeutet das für die Betroffenen? Nothilfe über lange Zeit bedeutet nicht «Hilfe in der Not», Nothilfe dieser Art erzeugt Not! Daraus resultiert eine verfassungswidrige Situation, weil durch die Langzeitnothilfe der Grundsatz auf ein menschenwürdiges Dasein verletzt wird «… wer in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen, hat Anspruch auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind» (BV, Art.12).

 

Quelle: AG-Nothilfe.ch

Das Problem entsteht aus einem Zielkonflikt zwischen einander z. Teil zuwiderlaufenden Gesetzesartikeln aus dem Asyl- bzw. Ausländerrecht. Während Die Asyl- und Ausländer- und Integrationsgesetze einerseits eine Beschränkung des Zutritts von Asylsuchenden in unser Land sicherstellen wollen (Abschreckung), fordern andere Gesetzesartikel, dass in die Schweiz immigrierte Personen möglichst schnell ihren Weg in Gesellschaft und Wirtschaft finden. Dem Integrationsgedanken wurde dabei aus den Erfahrungen der Vergangenheit insofern vermehrt Rechnung getragen, als man erkannt hat, dass raschere Integrationsmassnahmen die Chancen einer erfolgreichen (beruflichen) Integration fördern.

Bund und Kantone erprobten in diesem Rahmen in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Programmen zur frühzeitigen Integration von Asylsuchenden. Da sich die Asylverfahren – auch in Folge der grossen Anzahl an Gesuchstellern – aber oft über Jahre hinwegzogen, hatten sich die integrationswilligsten und –fähigsten Betroffenen zum Zeitpunkt ihres (negativen) Asylentscheids schon in einem hohen Masse integriert. Sie hatten z. Teil Arbeit gefunden, oder sie befanden sich bereits in einem Ausbildungsverhältnis.

Mit der bisherigen, sehr restriktiven Praxis wird also das Beschränkungsziel im Asyl- und Ausländerrecht einseitig gegenüber dem Integrationsziel bevorzugt; mit der Nichtberücksichtigung der gemachten Integrationsbemühungen bei der Abwägung, ob eine Rückkehr ins Herkunftsland im Einzelfall zumutbar (verhältnismässig) sei, findet bei den zuständigen Behörden (SEM und BVGer) eine Güterabwägung damit nicht statt. Dies führt in den Augen der Betroffenen (und auch der sie begleitenden Berufsschullehrer, Ausbildner*innen und Freiwilligen) schlussendlich das Erreichen des Integrationsziels ad absurdum!

Ein abschlägiger Asylentscheid hat negative Konsequenzen nicht nur für die betroffene Person , sondern auch für die Ausbildungsstätten, die betroffenen Lehrmeister, die Betriebe – ja schlussendlich für die ganze Branche, in welcher die Auszubildenden arbeiten. Es kann dazu führen, dass Lehrbetriebe und Ausbildungsstätten auf das Reservoir an willigen Auszubildenden aus dem Asylbereich ganz verzichten, obschon sie dringend auf Berufsnachwuchs angewiesen wären. Ein Ausbildungsbetrieb, dem mit einem abschlägigen Asylentscheid von einem Tag auf den anderen der/die Lernende weggenommen wird, wird nie mehr für Integrationsprogramme zu gewinnen sein, ganz egal, wie viel Kantone und der Bund da in Marketingmassnahmen investieren mögen.

Das Dilemma trifft ganz besonders Betriebe in ausgesprochenen Mangelbranchen; insbesondere Pflegeberufe, das Handwerk und das Kleingewerbe, wo der plötzliche Ausfall eines Lehrlings die Betriebsplanung eines ganzen Jahres vor grosse Herausforderungen stellen kann.

Quelle: AG-Nothilfe.ch

1. Zwangsabbrüche sind nicht nur für die betroffenen Auszubildenden verhängnisvoll, sondern auch für Ausbildungsbetriebe und Schulen. In kleinen Lehrbetrieben bedeutet der plötzliche Ausfall einer/eines Auszubildenden eine erhebliche Beeinträchtigung der Betriebsplanung und des Betriebserfolgs. Ausbildungsbetriebe werden nach solchen Erfahrungen darauf verzichten, bei ähnlichen Integrationspro-grammen mitzumachen: Die Unsicherheit spricht sich in der Branche herum und gefährdet aufwändig konzipierte Integrationsprogramme. Zudem behindert die latente Unsicherheit nicht nur den Erfolg der Betroffenen, sondern wirkt sich negativ auf ganze Klassenverbände, Schulen und Betriebe aus: Mit Angst im Nacken lässt sich schlecht lernen.

2. Die Ausbildungsabbrüche betreffen v.a. Betriebe in Branchen mit akuten Nachwuchs-problemen: z.B. das Baugewerbe, traditionelle Handwerksbetriebe, Gesundheitsbe-rufe und die Landwirtschaft. Branchen also, die seit Jahren Mühe bekunden, genügend Ausbildungswillige aus dem Inland zu rekrutieren.

3. Die Kosten der Rekrutierung und Ausbildung von Nachwuchs aus dem Ausland übersteigen die Ausbildungskosten von bereits gut integrierten Asylbewerber*innen. Hinzu kommt, dass die Mehrzahl der aus dem Ausbildungsverhältnis Heraus-gerissenen nicht in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden kann. Infolgedessen generieren die Betroffenen vor allem den Kantonen unfreiwillig im Nothilfe-Regime unabsehbare Kosten. Es wird fahrlässig Potential verschleudert, anstatt dass man die zumeist Jungen und hochmotivierten Auszubildenden zum Nutzen der Gesellschaft produktiv werden lässt.

4. Erfolgreich in der Schweiz ausgebildete Berufsleute haben nach ihrer Rückkehr in ihr Herkunftsland eine wesentlich höhere Chance, sich zu reintegrieren. Die Möglichkeit, eine bereits in Angriff genommene Ausbildung erfolgreich abschliessen zu dürfen, ist deshalb auch ein wesentliches Kriterium bei der Frage, ob Betroffene bei positiven Veränderungen im Herkunftsland eine freiwillige und selbständige Rückkehr in ihre Heimat erwägen und sich dort im Sinne einer tatsächlichen Hilfe zur Selbsthilfe am Wiederaufbau ihres Heimatlandes beteiligen.

Quelle: AG-Nothilfe.ch